„Wir müssen die Ärmel hochkrempeln“

Sigmar Gabriel sprach beim Jahresempfang der IHK Siegen vor rund 1.600 Gästen in der Siegerlandhalle.

Mut und Entschlossenheit, die Dinge in Angriff zu nehmen, die Deutschland und Europa auf die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in der Welt vorbereiten, das waren die wesentlichen Kernaussagen der Rede von Sigmar Gabriel beim Jahresempfang der Industrie- und Handelskammer Siegen in der Siegerlandhalle. Der ehemalige Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Vizekanzler und Wirtschaftsminister in der großen Koalition und zuletzt Bundesaußenminister legte dabei den Finger in so manche politische Wunde, die es zu behandeln gelte. Zur derzeit desaströsen Lage seiner Partei, der SPD, äußerte er sich nicht. Es war der „elder statesman“, der in Siegen sprach und nicht der von den eigenen Leuten mattgesetzte Parteipolitiker.

„Auch wenn der Begriff belastet sein sollte, was wir brauchen ist eine Agenda 2030 und zwar in fast allen Bereichen“, so Gabriel. „Wir müssen die Ärmel hochkrempeln, wenn wir gegen die zukünftigen Herausforderungen bestehen wollen.“ Die weltpolitische Achse habe sich deutlich verschoben. Nicht mehr der alte Ost-West-Konflikt zwischen den USA und Russland bestimme das Weltgeschehen, sondern die neue wirtschaftliche und politische Konfrontation zwischen den USA und China. „Wir haben einen starken Mittelstand, auch und gerade hier in Siegen-Wittgenstein und im benachbarten Sauerland, aber wir müssen was tun, damit das auch in Zukunft so bleibt“, postulierte Gabriel vor den rund 1.600 Zuhörerinnen und Zuhörern. Die Politik müsse ihre Entscheidungen nicht nur am Hier und Jetzt orientieren, sondern vorausschauend treffen.

Zukünftig entscheide nicht mehr nur das Produkt über den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens, sondern die Hoheit über die Daten. Derzeit seien im Wesentlichen fünf große amerikanische Konzerne ganz vorne dabei und noch ein paar chinesische. China habe hier aber klare Ziele gesetzt. „Darauf müssen wir uns einstellen und entsprechend handeln, sonst werden wir an wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und an Einfluss in der Welt verlieren.“

Der Brexit schwäche die Europäische Union nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. „Das werden wir sicher ausgleichen können“. Die politische Schwächung durch den Austritt Großbritanniens wertete Sigmar Gabriel als viel gravierender. Europa werde dadurch in der Welt an politischem Einfluss verlieren und das gerade in einer Zeit, in der die Gewichte neu austariert würden. Gleiches gelte auch für die europäische Wirtschaft. Die Musik spiele hier schon länger woanders. Auf dem Gebiet der Digitalisierung seien die USA derzeit vorne. Aber China habe bereits zum großen Sprung angesetzt. „Und was machen wir? Wir planen Ausgaben von 80 Milliarden Euro für den Ausstieg aus der Kohleverstromung, während China im gleichen Zeitraum rund 150 Milliarden Euro in die Digitalisierung investiert.“ Es sei sicherlich notwendig, etwas gegen den Klimawandel zu tun, aber während in Deutschland lange darüber diskutiert werde, bis wann die wenigen Kohlekraftwerke abgeschaltet werden sollen, würden in Asien über 300 neue Kohlekraftwerke geplant und gebaut. „Wenn wir 2038 aus der Kohleverstromung aussteigen und dann auch die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet sind, fehlen uns gut 50 Prozent der derzeitigen Grundlastversorgung. Das werden Solarenergie und Windkraft sicher nicht ausgleichen können, vor allem auch deshalb, weil die dafür notwendigen Stromtrassen noch nicht gebaut sind“, so Gabriel. Es mache dann auch keinen Sinn, teuren Atomstrom aus Frankreich und Kohlestrom aus Polen zu importieren.

Eine moderne Infrastruktur sei die Voraussetzung für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. „Es kann doch nicht sein, dass in einem so reichen Land, wie dem unseren, Straßen und Brücken marode sind, Schulen verfallen und ganze Landstriche keine vernünftigen Internetzugang haben.“ Es müsse zwar nicht jede Milchkanne sein, die einen der neuen 5G-Mobilfunkanschlüsse bekomme, aber zumindest jede Schule und jedes Industriegebiet, auch im ländlichen Raum, so der ehemalige Bundeswirtschaftsminister. Er plädierte in diesem Zusammenhang auch dafür, den Solidarzuschlag nicht einfach abzuschaffen, sondern neu zu konfigurieren und dort einzusetzen, wo es sinnvoll und notwendig sei, in Ost und West. „Vor allem die strukturschwachen Dörfer und Gemeinden im ländlichen Raum sollten davon profitieren.“

Die Europäische Union sei ein Glücksfall für Deutschland, davon zeigte sich Gabriel überzeugt. „Als Exportnation konnte uns nichts besseres passieren, auch wenn die EU, ebenso wie die Nato, ursprünglich gegründet wurde, um Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg unter Kontrolle zu halten. Einen zweiten Versailler Vertrag konnte und wollte sich in Europa niemand leisten.“ Dieses gemeinsame Europa gelte es zu erhalten und zu stärken, auch militärisch. „Ich bin zwar kein Freund der Zwei-Prozent-Regelung in Sachen Militärhaushalt, aber wenn wir den östlichen EU-Mitgliedsländern ein Gefühl der Sicherheit geben wollen, ohne dafür die USA in Anspruch nehmen zu müssen, dann kommen wir ohne Mehrausgaben für die Verteidigung nicht herum“, stellte Sigmar Gabriel. fest.

Den heimischen Unternehmerinnen und Unternehmern sowie den Beschäftigten in den Betrieben wünschte er neben Mut und Entschlossenheit auch Gesundheit und Glück für das neue Jahr. „Gesundheit und Glück gehören für mich zusammen. Die Passagiere der Titanic waren auch alle gesund, nur fehlte ihnen letztlich das notwendige Glück.“ Abschließend appellierte er an die Zuhörerinnen und Zuhörer:“ Bitte gehen Sie zur Europawahl und überlassen Sie nicht den radikalen Kräften das Feld. Europa ist für uns alle viel zu wichtig. Europa ist unsere Zukunft. Die dürfen wir nicht den Orbans und LePens überlassen.“

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