Es ist an der Zeit, aufzuwachen …

Wir schreiben den 24. September 2034. Vor wenigen Tagen hat das letzte große Maschinenbauunternehmen in Siegen seine Pforten geschlossen. Die Produktion wurde an andere Standorte mit besseren Rahmenbedingungen verlagert. Mit dem Unternehmen haben viele junge, gut ausgebildete und hochqualifizierte Fachkräfte die Region verlassen. Damit ist die weitgehende Deindustrialisierung des Siegerlandes abgeschlossen. Das industrielle Herz Nordrhein-Westfalens hat aufgehört zu schlagen. Südwestfalen ist schon lange nicht mehr die drittstärkste Industrieregion Deutschlands.

Angefangen hat alles vor gut fünfzehn Jahren. Damals sollte die angekündigte Ausweichroute für den Schwerlastverkehr eigentlich zur Verfügung stehen. Aber bereits in der Planungsphase kam es zu erheblichen Verzögerungen. Der angekündigte Zeitraum von fünf Jahren wurde deutlich überschritten. Und als die Strecke dann 2024 endlich fertig war, gab es keinen Schwerlastverkehr mehr in Siegen-Wittgenstein. Längst hatten die betroffenen Unternehmen reagiert und ihre Fertigungen an verkehrsgünstigere Standorte verlagert.

Im gleichen Jahr brach die Konjunktur endgültig ein. Innerhalb weniger Monate stieg die Arbeitslosenzahl bundesweit um mehrere Millionen. Dadurch mussten Bund, Länder und Kommunen erhebliche Haushaltsmittel aufwenden, um den Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme abzuwenden. Diese Mittel fehlten dann für eigentlich notwendige Investitionen. Gleichzeitig gingen die Steuereinnahmen massiv zurück. Die Staatsschulden haben inzwischen eine Größenordnung von fünf Billionen Euro erreicht. Deutschland steht seit zwei Jahren unter der Finanzaufsicht der EU. Eine Troika aus Griechenland, Spanien und Portugal versucht seit Monaten, tiefgreifende strukturelle Reformen und notwendige Sparmaßnahmen durchzusetzen, die über Jahre von der Rot-Rot-Grünen Bundesregierung verhindert wurden. Ob das was bringt, wird man sehen. Zumindest wird es Europa eine Menge kosten. Das sorgt in der EU derzeit nicht gerade für gute Stimmung.

Für den Kreis Siegen-Wittgenstein bedeutete diese Entwicklung den endgültigen Verfall der Verkehrsinfrastruktur. Zwar wurde der Ausbau der Autobahn A45 weitergeführt. In zwei Jahren soll sie nun endgültig dreispurig ausgebaut sein. Aber die vor allem von den Wittgensteiner Unternehmen geforderte Route 57 blieb dabei auf der Strecke. Lediglich die Ortsumgehung Kreuztal wurde noch teilweise fertig gestellt. Aber auch die ist inzwischen weitgehend überflüssig. Der Altkreis Wittgenstein hat nämlich seine ehemals starke industrielle Basis ebenfalls verloren. Zunächst hoffte man auf Seiten der Landesregierung noch, die Abwanderung der Unternehmen und damit auch der Arbeitsplätze durch Initiativen in der Holzwirtschaft zu kompensieren. Weil aber das Land schließlich doch Millionen von Festmeter Holz an einen Österreichischen Konzern liefern musste, ging auch dieses Vorhaben zur Stabilisierung der Wirtschaft schief. Es dürfte noch gut 50 Jahre dauern, bis die weitgehend kahl geschlagenen Wittgensteiner Wälder wieder nachgewachsen sind.

Schließlich hatte das NRW-Umweltministerium die Idee, aus dem gesamten ehemaligen Altkreis Wittgenstein ein Naturreservat zu machen mit entsprechenden touristischen Angeboten. Ein Teil der verbliebenen Einwohner fand in der Parkverwaltung oder als Ranger einen Job. Aber weil die schlechten Anfahrtswege viele Menschen von einem Besuch in dem neuen Reservat abhielten, schreibt die Trägergesellschaft bis heute rote Zahlen.

Es ist, wie es ist. Die Versäumnisse der Vergangenheit haben uns heute endgültig eingeholt. Während die Reformen in den strukturschwachen Ländern Europas nach wenigen Jahren bereits gute Erfolge zeigten, versäumte es Deutschland, seine Strukturen ebenfalls zukunftssicher zu machen. Über viele Jahre ging das gut, weil die wirtschaftliche Entwicklung weitgehend positiv verlief. Aber mit dem Zurückschrauben fast aller durch die Agenda 2010 auf den Weg gebrachten Maßnahmen, legte sich unser Land selber Fesseln an, die bis heute nachwirken. Als dann die Konjunktur für einen längeren Zeitraum einbrach, traten diese Versäumnisse endgültig zu Tage.

Gestern habe ich einen Brief von der Rentenversicherung bekommen: „Lieber Herr Hofmann, … leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir auf Grund der angespannten finanziellen Lage gezwungen sind, ihre Rentenzahlung um weitere zehn Prozent zu kürzen.“ Na prima. Dann ist ja wohl noch ein Nebenjob fällig. Der in der Gärtnerei reicht ja gerade mal, um die Kosten für Strom und Heizung zu decken. Mal sehn was da sonst noch so geht …

Und dann bin ich glücklicherweise wach geworden.

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