Nahost-Krise: Außenexperte Dr. Andreas Reinicke gibt tiefe Einblicke

Tauschten sich über die Lage im Nahen Osten aus: (v.l.): Dr. Thilo Pahl (IHK-Hauptgeschäftsführer), Dr. Thorsten Doublet (Geschäftsführer Arbeitgeberverbände Siegen-Wittgenstein – AGV), Referent Dr. Andreas Reinicke, Christian F. Kocherscheidt (Vorsitzender AGV) und Wieland Frank (Vorstand AGV).

„Wir lassen nach wie vor zu viele Chancen im Nahen Osten liegen. Eine öffentliche Diskussion über die deutschen und europäischen Interessen in der Region ist überfällig!“ Eindringlich warb Dr. Andreas Reinicke vor mehr als 100 aufmerksamen Zuhörern im Haus der Siegerländer Wirtschaft für ein stärkeres Gewicht der Geopolitik in der deutschen und europäischen Außenpolitik. Auf Einladung der Arbeitgeberverbände Siegen-Wittgenstein und der IHK Siegen ordnete der Direktor des Deutschen Orient-Instituts die globalen Machtverschiebungen infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, die Konflikte im Nahen Osten und die Eskalationen rund um Gaza ein.

Viele Menschen in Deutschland hätten das Gefühl, die Welt sei aus den Fugen geraten. Diesen Eindruck teile er zwar nicht, betonte der langjährige Diplomat, aber: „Die Welt ist stark in Bewegung geraten. Was in der Außenpolitik geschieht, geht uns ganz unmittelbar an. Der sprichwörtliche ‚Sack Reis, der in China umfällt‘, kann uns heute nicht mehr gleichgültig sein!“ In einem Parforceritt gab Dr. Andreas Reinicke fundierte Einblicke in historische, religiöse und wirtschaftliche Hintergründe und Abhängigkeiten. Im Mittelpunkt: die „Mutter“ vieler Auseinandersetzungen: der Palästinakonflikt.

Der ehemalige Botschafter Deutschlands in Syrien und Tunesien sowie Sonderbeauftragte der Europäischen Union für den Nahost-Friedensprozess griff dabei immer wieder auf persönliche Erfahrungen und Kontakte in der Krisenregion zurück und veranschaulichte auch die „arabische Sichtweise“, wonach die Briten das Land nach Auflösung des Osmanischen Reiches den Palästinensern versprochen hätten. „Stattdessen erlebten die Menschen nun eine jüdische Einwanderung, vor allem aus Osteuropa, die als Kolonialisierung empfunden wurde.“ Die Juden sähen das Gebiet des Staates Israels hingegen als historisches Heimatland der Juden. Sowohl über Palästina als auch über dem Westjordanland stehe seitdem die Kernfrage: „Wer darf hier leben?“

Dr. Reinicke: „Kein Interesse an Geisel-Verhandlungen“
Das aktuelle Kriegsgeschehen werde erheblich von religiösen Überzeugungen beeinflusst: „Wer eine Verhandlungsdelegation an einem neutralen Ort angreift, sendet eine mehr als eindeutige Botschaft: Es besteht kein Interesse an Verhandlungen!“ Für die Geiseln in der Hand der Hamas sei dies kein gutes Signal. Immerhin seien die meisten Geiseln durch Verhandlungen freigekommen, nicht durch den Einsatz des Militärs. Die Zusammensetzung und der religiöse Einfluss der Religion in der aktuellen Regierung Israels einerseits und die aktuellen Truppenbewegungen andererseits deuteten auf durchaus weitergehende Kriegsziele hin, womöglich zur Ausweitung des Staatsgebietes auf biblische Ursprünge.

Die Nachbarstaaten Israels hätten ihrerseits Sorge vor einem Erstarken religiöser Bewegungen, insbesondere der Muslimbruderschaft, der auch die Hamas zuzuordnen ist. Sunniten, Schiiten: Auch die unterschiedlichen Glaubensrichtungen des Islam wirkten sich auf den Konflikt aus, erschwerten zum Beispiel die militärische Abstimmung zwischen Hisbollah und Hamas, die es Israel am Ende ermöglichte, Gegner nacheinander zu bekämpfen. Und auch die Positionierung des amerikanischen Präsidenten und der US-Regierung könnte von religiösen Motiven aus dem Feld evangelikaler Christen beeinflusst sein, die Donald Trump im Wahlkampf unterstützten.

Einer der Profiteure der fortwährenden Auseinandersetzungen: China. Den überwiegenden Anteil seiner reichen Erdölvorkommen exportiere der Iran in das Reich der Mitte. Dr. Reinicke: „Offenkundig zahlt sich die historische Vermittlerrolle Chinas zwischen Saudi-Arabien und dem Iran aus.“ Zur Befriedung des Konflikts unterstütze die deutsche Außenpolitik eine Zweistaatenlösung, die aber von Israel derzeit ebenso abgelehnt wird wie ein gemeinsamer Staat. Auch das Konzept für eine Sicherheitskonferenz im Nahen Osten nach dem Vorbild der NATO betrachtet der erfahrene Diplomat als nicht realistisch. Aktuell stünden die Zeichen auf eine Vertreibung der Palästinenser aus Gaza und dem Westjordanland – eine Entwicklung, die Deutschland unmittelbar betreffe: Es drohten große Bevölkerungsbewegungen. Angesichts der zunehmenden Radikalisierung wachse die Gefahr von Anschlägen. Die deutsche Unterstützung der EU-Sanktionen gegen Israel bewertet Dr. Reinicke als richtigen Schritt. „Israel müssen Grenzen aufgezeigt werden. Das Existenzrecht ist wichtige Säule deutscher Außenpolitik, aber nicht identisch mit bloßer Solidarität mit der Regierung Netanjahu.“

Es falle schwer, angesichts dieser Entwicklungen positiv zu denken, bilanzierte Christian F. Kocherscheidt, IHK-Vizepräsident und Vorsitzender des Verbandes der Siegerländer Metallindustriellen (VdSM): „Wir haben schon genug mit den hausgemachten wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen zu tun, brauchen Kompromisse, Reformen und Veränderungen. Neben den allgegenwärtigen Krisenherden erleben wir in für uns wichtigen Staaten ein historisches Maß an Unsicherheit. Zum einen bremsen einige Unternehmen ihr China-Geschäft, um Risiken zu verringern, zum anderen rücken nun auch Abhängigkeiten von den USA in den Fokus.“ Daher brauche es jetzt weitere Handelsabkommen.

Positiv bewertete Dr. Andreas Reinicke vor diesem Hintergrund die Chancen für deutsche Unternehmen in Syrien und Ägypten, in denen viele im Bereich der Digitalisierung versierte Fachkräfte bereitstünden. Kürzere Transportwege machten zudem verstärkte Handelsbeziehungen mit diesen oder anderen Ländern der Region zunehmend attraktiver.

Text/Foto: IHK

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